“Briefe ohne Unterschrift“. DDR-Geschichte(n) auf BBC Radio
Eine Ausstellung im Museum für Kommunikation Berlin
“Schreiben Sie uns, wo immer Sie sind, was immer Sie auf dem Herzen haben.”
Austin Harrison.
Mit diesen Worten lädt die BBC-Radiosendung „Briefe ohne Unterschrift“, die sich von 1949 bis 1974 in deutscher Sprache insbesondere an Hörer*innen in der DDR richtet, zum Briefeschreiben ein. Die, wie der Sendungstitel verrät, anonym verfassten Briefe gelangen über Deckadressen in West-Berlin zur BBC in London.
Der Moderator Austin Harrison trifft mit seinem Redaktionsteam eine Auswahl aus den eingegangenen Briefen, die jeden Freitagabend in der vom German Service der BBC ausgestrahlten Sendung vorgelesen und kommentiert werden. Die Briefe bieten ungeschönte und direkte Einblicke in den Alltag der DDR-Bürger*innen, deren Nöte, Sorgen und natürlich auch deren Meinung zum politischen System.
So entsteht über Brief und Radio ein kommunikativer Austausch zwischen Austin Harrison und den Briefeschreiber*innen. Da nicht nur DDR-kritische Einsendungen berücksichtigt, sondern auch Briefe ausgewählt werden, die der DDR gegenüber positiv eingestellt sind, entfachen sich nicht selten regelrechte Ferndebatten zwischen den Schreibenden, die unterschiedliche Positionen zur Politik der DDR vertreten.
Hierfür bietet die Sendung eine Plattform und ermöglicht eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, die es im real existierenden Sozialismus so nicht gibt.
Die rund 40.000 Briefe sind nahezu vergessen, bis die Schriftstellerin Susanne Schädlich diese bei Recherchen in einem BBC-Archiv wieder entdeckt und aufarbeitet. Ihr Buch „Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC- Sendung die DDR herausforderte“ gibt den Anstoß zu dieser Ausstellung.
Die Ausstellung “Briefe ohne Unterschrift“. DDR-Geschichte(n) auf BBC Radio” im Museum für Kommunikation Berlin nimmt die Sendung zum Anlass, all die Geschichten zu erzählen, die damit verknüpft sind: Die persönlichen Schicksale der Briefeschreibenden, die der Sendungsmacher*innen, die des Rundfunks in der Nachkriegszeit, und darüber hinaus die Wechselwirkungen zwischen Sendung und Gesellschaft.
BBC
German Service der British Broadcasting Corporation
1946 kommt es fast zur Schließung des German Service, doch das Außenministerium des Vereinten Königreichs setzt sich vehement für dessen Erhalt ein, um im besetzten Deutschland „die Fühler Großbritanniens auszustrecken“.
1973 erkennt Großbritannien die DDR an und richtet eine Botschaft in Ost-Berlin ein. Das Programm für Ostdeutschland stellt 1975 seinen Betrieb ein, lediglich ein Deutschland übergreifender Dienst bleibt erhalten.
Der Moderator Austin Harrison und sein Team
Ministerium für Staatssicherheit
Überwachung, Postkontrolle und “Propagandakrieg“
Dass eine Radiosendung, die sich mit hohem Aufwand Alltags-Interna der DDR beschafft ein Politikum im „Propagandakrieg“ der deutschen Teilung darstellt, steht außer Frage. Von staatlicher Seite ist der Konsum westlicher Medien in der DDR nicht erwünscht. Dennoch werden diese, sofern sie zu empfangen sind, gehört und gesehen. Neben Unterhaltungsformaten und Musiksendungen bieten sie den Hörer*innen auch politische und kulturelle Informationen und leisten damit einen wichtigen Beitrag für die kritische Meinungsbildung in der DDR.
Das Ministerium für Staatssicherheit stuft das Format als Hetzsendung des Westens ein. Beim Hören gehen die Nutzer*innen daher ein hohes Risiko ein.
Der befürchteten „politisch-ideologische Zersetzung der DDR-Bürger*innen“ wirkt das MfS mit akribischer Überwachung entgegen: Briefe werden abgefangen, nach der Identität der Schreiber*innen gefahndet und diese anschließend verhaftet sowie in einigen Fällen zu drastischen Gefängnisstrafen verurteilt.
Dabei nutzt das MfS Methoden wie die Anschriften- und Merkmalsfahndung, um verdächtige Briefe aufzuspüren. Anhand der abgefangenen Briefe wird mit enorm hohem Aufwand nach der Identität der Schreiber*innen gefahndet – unter anderem mit Schriftenanalysen und konspirativ beschafften Speichel- und Blutproben.
Karl-Heinz Borchardt alias “ein schreibender Schüler”
Als 16-jähriger Schüler richtet sich Karl-Heinz Borchardt an „Briefe ohne Unterschrift“. Er schreibt anonym mit dem Kennwort „Ein schreibender Schüler“.
Mit großem Aufwand und einem eigens dafür durchgeführten Aufsatz in seiner damaligen Schulklasse gelingt es dem Ministerium für Staatssicherheit Karl-Heinz Borchardt durch Handschriftenvergleich zu identifizieren.
Er wird zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Geheimdienstverbindungen und Spionagevorwürfe
Auch die Mitarbeiter*innen der BBC geraten in den Fokus des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Büroräume am Berliner Savignyplatz werden überwacht. Austin Harrison sieht man als einflussreichen Agenten des britischen Geheimdienstes.
Bereits 1967 beschäftigt sich das MfS im Vorgang “Bumerang” mit der Überwachung Austin Harrisons. Nach mehreren Jahren, die nicht dokumentiert sind, eröffnet das MfS 1971 den Vorgang “Werfer”. Dies ist der zentrale Operative Vorgang zur Überwachung der Sendung “Briefe ohne Unterschrift”.
Eines der ersten Fotos, das bei der Beobachtung Austin Harrisons durch das MfS entsteht, zeigt ihn beim Einwerfen einer Postsendung. Um was es sich dabei handelt, kann nicht festgestellt werden. Der Operative Vorgang wird daraufhin als „Werfer“ in der Decknamenkartei angelegt. © BStU
Eröffnungsbericht des Ministeriums für Staatssicherheit zur Beobachtung von Austin Harrison alias „Werfer“ © BStU
Postkontrolle: So überwacht das Ministerium für Staatssicherheit den Brief- und Paketversand in der DDR
Die Briefe
Viele Hörer*innnen konsumieren Sendungen wie „Briefe ohne Unterschrift“ nicht nur, sie werden aktiv: Sie folgen dem Aufruf von Austin Harrison und äußern ihre persönliche Meinung und Kritik in Hörer*innenbriefen.
Handschriftlich auf einer Schulheftseite, mit Tinte, Bleistift, auf Luftpostpapier oder maschinengeschrieben: Die unterschiedlichen Briefe spiegeln die Verschiedenheit der Schreiber*innen wider. Alle Schreiber*innen äußern den Wunsch nach freier Meinungsäußerung. Dieser ist stärker ist als die Angst vor den Konsequenzen.
Postfächer und Deckadressen der BBC
Für postalische Einsendungen hat die BBC mehrere Postfächer, deren Nummern in der Sendung angesagt werden. Obwohl sie diese häufig wechseln, reagiert das Ministerium für Staatssicherheit immer schneller und fängt entsprechend adressierte Briefe ab.
Mitte der 50er Jahre entwickeln die BBC-Mitarbeiter*innen daher ein System aus wechselnden Deckadressen, die zu Beginn und zum Ende der Sendung genannt werden. Hinter den Adressen verbergen sich Brachflächen oder Trümmergrundstücke im britischen Sektor. Die Briefe werden bei den entsprechenden Postämtern gesammelt und dort von Mitarbeiter*innen abgeholt.
Das MfS versucht dieses System zu durchbrechen, indem die Deckadressen akribisch gesammelt und dokumentiert werden.
Der Weg der Briefe: So gelangen die Hörer*innen-Einsendungen zur BBC
Der Weg der Briefe
Die Themen
In 25 Jahren erreichen rund 40.000 Zusendungen die BBC
Briefe im Archiv der BBC
Trotz des engen Netzes der DDR-Postkontrolle gelangen jährlich tausende Briefe nach London. Insgesamt lagern heute etwa 40.000 Briefe in den Written-Archives der BBC und stellen einen wahren Archivschatz dar, der bisher nur teilweise gehoben wurde.
In den Briefen spiegeln sich politische und gesellschaftliche Ereignisse. Die unterschiedlichen Hand- und Maschinenschriften zeigen die Verschiedenheit der Schreiber*innen von jung bis alt und aus allen gesellschaftlichen Schichten.
Von „Ruf nach Freiheit“ über „Eine Mutter für Ihr Kind“ bis zu „Freie Welt“ – die Kennwörter, die sich die Verfasser*innen selbst gaben, um ihre Briefe in der Sendung zu erkennen, erzählen von Wünschen und Träumen.
Briefe im Archiv der BStU
Der zweite Teil der Briefe, die auf dem Postweg nach West-Berlin abgefangen wurden, befindet sich heute im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU). Die Behörde verwaltet und erforscht die Akten und Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit.
Mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG), das am 29. Dezember 1991 in Kraft trat, soll den Betroffenen Zugang zu den Informationen gewährt werden, die der Staatssicherheitsdienst der DDR zu ihnen gespeichert hat. Erstmals in der Geschichte bekommen Bürger*innen damit die Gelegenheit, Unterlagen einzusehen, die eine Geheimpolizei über sie gesammelt hat.
Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten finden Sie auf der Webseite der BStU.
Interviews
Susanne Schädlich
Karl-Heinz Borchardt
Karl-Heinz Borchardt über die Sendung “Briefe ohne Unterschrift”, seine Jugend in der DDR und seine Verhaftung mit der Begründung des Verfassens eines sogenannten “Hetzbriefes” an die Sendung des German Service der BBC.
Günter Burkart
Günter Burkart arbeitete im Team des German Service der BBC und ist als Redakteur in der Sendung “Briefe ohne Unterschrift” von 1966 – 1974 aktiv. Er berichtet über den Sendeablauf, die Bedeutung der Sendung und den Moderator Austin Harrison.
Die Recherchen von Susanne Schädlich
Das inhaltliche Konzept der Ausstellung geht zurück auf Recherchen von Susanne Schädlich. Die Autorin und Übersetzerin stößt 2014 auf die in Vergessenheit geratene Geschichte der Radiosendung, beginnt zu recherchieren und findet in den Archiven der BBC die Originalbriefe.
2017 veröffentlicht sie ihre Ergebnisse in ihrem Buch „Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte“.
Die Ausstellung im Museum für Kommunikation Berlin
Das Zuhause der Schreiber*innen, die Zentrale der Staatssicherheit der DDR, das BBC-Studio: Die Ausstellung zeigt die Stationen, die die Briefe durchliefen, und erzählt die Geschichten, die damit verknüpft sind.
Exklusive Interviews mit Briefeschreiber*innen und Sendungsmacher*innen zeigen persönlichen Schicksale. Erstmalig werden Tonbandmitschnitte, die das MfS von der Sendung angefertigt hat, zusammen mit den jeweiligen Originalbriefen aus dem Archiv der BBC präsentiert.
Zudem nimmt die Ausstellung Meinungsfreiheit global in den Blick und zeigt am Beispiel aktueller Aktivist*innen wo und mit welchen Mitteln sich heute Menschen für politische und gesellschaftliche Teilhabe sowie freie Meinungsäußerung einsetzen.
In einem analogen Umfragetool können die Besuchenden schließlich ihre persönliche Meinung zu der Frage „Wie frei fühle ich mich in meinen Äußerungen“ reflektieren und sich anonym auf einer Skala verorten.
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